Samstag, 10. Juni 2023

Eltern wünschen sich inklusiven Unterricht, der bisher als Schulversuch läuft

Nele ist ein Kind wie alle anderen – nur gehörlos

Nele und Linn Schüßler besuchen die selbe Grundschule in Heddesheim. Ohne ihre Implantate wäre Nele taub.

Nele und Linn Schüßler besuchen dieselbe Grundschule in Heddesheim. Ohne ihre Implantate wäre Nele (links) aber taub.

Heddesheim/Weinheim/Rhein-Neckar, 16. Oktober 2013. (red/ld) Ihre Taubheit sieht man Ihr nicht an: Sie mag Musik, egal ob laut oder leise. Sie liebt Hip-Hop und Tanzen, Voltigieren und Karate. Nele ist von Geburt an gehörlos. Trotzdem geht die Siebenjährige auf dieselbe Schule wie ihre Schwester. Seit drei Jahren haben Eltern beeinträchtigter Kinder das Recht, ihre Kinder auf eine Regel- und nicht auf die Sonderschule zu schicken. Und das wird sehr gut angenommen – trotz vieler Hürden. [Weiterlesen…]

„Schicker“ Auftritt: Wenn eine Kultusministerin das reale Leben trifft, wird viel gelächelt

Guten Tag

Heddesheim/Hirschberg, 22. September 2010. (red) Der 20. September 2010 ist für Hirschberg ein besonderer Tag. Die neue baden-württembergische Kultusministerin Marion Schick trägt sich ins goldene Buch der Gemeinde ein und redet über „Inklusion“ – so nennt man die Teilnahme von behinderten Schülerinnen in „normale“ Klassen. Frau Schick gibt sich offen, lächelt viel, redet viel und ist bester Laune. Viele der Gäste habe hingegen Sorgen.

Von Hardy Prothmann

Ich bin nun schon zwanzig Jahre „im Geschäft“. Als Journalist habe ich viel gesehen, erlebt, erfahren. Aber ich lerne immer wieder neu dazu.

So geschehen am Montag, den 20. September 2010. Frau Kultusministerin Prof. Dr. Marion Schick besucht die Martinsschule in Ladenburg und „stellt“ sich dann der „Diskussion“ zum Thema „Inklusion“ in der Martin-Stöhr-Grund-und Hauptschule Hirschberg, die sich aber ausweislich eines an eine Leinwand gebeamten Textes „Grund- und Werkrealschule Hirschberg/Heddesheim“ nennt. Der Name ist weder offiziell noch richtig.

Schick. Adrett. Beredt.

Frau Schick ist eine adrette Person. Anfang 50, schlank, Anzugträgerin, Kurzhaarfrisur. Sie hat ein fröhliches Naturell und lacht gerne. Dabei kann sie auch reden wie ein Wasserfall. Die bayerische Herkunft kann sie nicht verleugnen, sie jauchzt und juxt. Und sie redet und redet. Über „Inklusion“, also das gemeinsame Unterrichten behinderter und „normaler“ Kinder. Über Kosten, Gelder, Pläne und vor allem Erfolge und dann sagt sie fröhlich: „Ich habe Sie jetzt wahrscheinlich provoziert und freue mich auf Ihre Fragen.“

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Lächeln, lachen, jauchzen. Staatssekretär Wacker und seine Chefin Schick.

Zuvor hat allerdings der Hirschberger Bürgermeister Manuel Just provoziert. Der Hirschberger Bürgermeister bezeichnete den integrativen Unterricht von behinderten Kindern in „normalen“ Schulen als „eines der wichtigsten Themen überhaupt“ und zeigte sich in seiner engagierten Rede in einer ganz ungewohnt sozialpolitischen Position, die er einfühlend und glaubhaft vertrat: „Wir stehen alle am Anfang eines Prozesses der Akzeptanz, der einen moralischen Diskurs ersetzt.“

Er verweist auf wissenschaftlicher Erkenntnisse, die die Sorgen der Eltern „normaler Schüler“ beruhigen kann – „stärkere Schüler“ werden durch „schwächere“ nicht „behindert“.

Wer soll das bezahlen?

Bürgermeister Manuel Just wäre nicht er selbst, wenn er nicht über Zahlen reden würde: „Doch wer soll das, was von uns Kommunen abverlangt wird, bezahlen?“ Er redet über die Belastungen der Kommunen. Dann ist die Frau Ministerin an der Reihe.

Die redet engagiert und lacht und zeigt Zähne und sagt: „Gerade ist es es mir kalt den Rücken hinunter gelaufen“, und meint damit das, was der frühere Kämmerer Manuel Just gefragt hat: „Wer soll das bezahlen?“ Sie redet über den „Beginn eines tiefgreifenden Prozesses“: „Wir kommen aus den 60-er Jahren als die Schulpflicht für behinderte Kinder überhaupt erst eingeführt wurde.“ Über ein neues Lehramt für Sonderpädagogik. Sonderpädagogische Kompetenzzentren. Und die Sorgen und Ängste der Eltern, deren Kinder auf „Regelschulen“ gehen, in denen „Sonderschüler“ mitlernen sollen: „Es geht darum, sich auf den Weg zu machen“, sagt die fröhliche Ministerin und verweist auf geltendes Recht: „Wir müssen die UN-Konvention umsetzen.“

Dann fordert sie die rund 70 Gäste auf, „alles zu fragen, was sie wollen.“

In der „Martin-Stöhr-Schule“, die laut Beamer „Grund- und Werkrealschule Hirschberg/Heddesheim“ heißt, hat anscheinend niemand Fragen an die fröhliche Frau Ministerin.

Niemand will sich melden, bis der Ladenburger Bürgermeister Rainer Ziegler den „Eisbrecher“ macht, die peinliche Situation löst und um das Mikrofon bittet. Er spricht die gewünschte Barrierefreiheit in den Schulen an, fragt nach finanzieller Unterstützung vom Land und auch der „Inklusion“ in die Realschulen.

Schicke Selbstinszenierung.

Die Frau Ministerin redet wieder lange und fröhlich und ernst: „Wir beziehen Prügel von der Deutschen Gesellschaft für Menschenrechte….“ und endet: „Es kann nicht sein, dass wir eine positive Diskriminierung schaffen.“

Damit meint sie, dass es nicht angehen könne, dass man zum Nachteil der „normalen“ Schüler die „Sonderschüler“ bevorteile: „Dafür halten Herr Wacker und ich unsere Rücken hin.“ Und dann jauchzt und lächelt die Frau Ministerin.

Scheinbar steht sie auf Schmerzen – von denen berichten dann viele. Denn das „Eis“ ist nun gebrochen. Die Offenheit, die sich die Ministerin durch ihre „Provokationen“ gewünscht hat, ermuntert die Gäste, nach dem Mikrofon zu verlangen.

Mehrere Lehrerinnen, Schulrektorinnen und Bürgermeister beschreiben ihre Lage, allesamt respektvoll vor dem Status der Ministerin. Allesamt offen und glaubwürdig. Allesamt progressiv und offen für die „Inklusion“, diesem schrecklichen Wort für die normalste Sache der Welt, „Sonderschülern“ eine große Chance zu geben.

Sorgen und Ängste werden weggelächelt.

Und es werden auch „Sorgen und Ängste“ geäußert, ob es „Quoten“ geben werde, also „Prozentsätze“, wie viele „Sonderschüler“ in den „normalen Klassen“ unterrichtet werden könnten.

Die Ministerin lacht, zeigt Zähne, jauchzt, verweist auf die Kosten, dass alles „individuell“ entschieden werden müsse, für manche auch die „Sonderschule“ die beste Lösung sei und auf Investitionen, die „aber erst ab 2012 getätigt“ werden könnten.

Bürgermeister Manuel Just sitzt bei dieser „Diskussion“ zwar auch auf dem Podium, sagt aber kein Wort mehr. Der Bürgermeister Ziegler und sein Kollege aus Schriesheim, Hansjörg Höfer, haben sich einmal zu Wort gemeldet, schweigen dann aber.

Kurz vor Schluss, meldet sich der Rektor der Martinsschule in Ladenburg, Kurt Gredel und bittet die Ministerin: „Sie haben immer wieder von Regelschulen gesprochen, in denen behinderte Kinder unterrichtet werden. Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass auch die Martinsschule eine Regelschule ist.“

Die Ministerin lacht und jauchzt: „Das habe ich mir notiert. Das wird mir nicht mehr passieren. Natürlich ist auch ihre Schule eine Regelschule“, sagt sie und gibt sich offen und transparent und fröhlich und lernbegierig. Sie lächelt die Peinlichkeit ihres eigenen Auftritts einfach weg. Hatte sie nicht gerade die Regelschule für Behinderte aus den 60-er Jahren als große Entwicklung benannt, unterschied sie 50 Jahre später ganz aktuell und life zwischen „Regelschule“ und „Sonderschule“. Herr Gretel lächelt auch, setzt sich und denkt sich wahrscheinlich seinen Teil.

Die gute Laune ist das Signal.

Staatssekretär Georg Wacker (CDU) lächelt mit seiner „Chefin“ Schick um die Wette und versucht gute Laune zu signalisieren. Dabei redet er mehrmals was vom „schönsten Landkreis in Baden-Württemberg“ und zeigt sich vor allem unterwürfig gegenüber seiner Chefin: „Ich würde mir niemals anmaßen….“ Das soll irgendwie „Gentlemen-like“ wirken.

Nach gut 70 Minuten ist die Vorführung zu Ende.

Es wurde vor allem viel geredet und noch mehr gelächelt und gute Laune gezeigt. Von Frau Schick und Herrn Wacker.

Der Rektor, der wie auch immer heißenden Schule, Jens Drescher, war aufgeregt, sicher auch stolz, aber auch ehrlich: Er will, wie die vielen seiner Rektoren- und Lehrerkollegen ganz klar mitmachen bei der „Inklusion“.

Er fragt aber auch, wie das gehen soll, also nach Geld und Personal.

Schema F.

Die Ministerin jauchzt und lächelt und ist guter Laune während ihres Auftritts, der wahrscheinlich weniger der Lösung finanzieller und personeller Fragen galt, sondern vielmehr der Auftakt des Wahlkampfes ist: „Wir machen in der Schulpolitik nichts nach Schema F“, sagt sie kämpferisch.

Nur schade, dass Herr Staatssekretär Wacker mich nicht drangenommen hat, obwohl ich mich ausgiebig und deutlich als Fragesteller gemeldet habe.

Ich wollte die Ministerin fragen, wie denn die schwierigen Fragen zur „Inklusion“ gelöst werden können, wenn sie selbst gerade in einer Schule referiert, die eine „individuelle Lösung“ in Sachen „Werkrealschule“ zum „Wohle der Kinder“ gemeinsam mit Heddesheim vorgelegt hat. Diese Lösung wurde nach „Schema F“ abgelehnt.

Die Schule hat bis heute, ein halbes Jahr nach der Verwaltungsentscheidung keinen offiziellen Namen. Der neue Leiter, Rektor Jens Drescher, ist bislang nur „kommissarischer Leiter“. Als solcher verdient er weniger Geld als ihm für seine Arbeit zusteht.

Frau Schick sagte zuvor, lächelnd und jauchzend und auch ein wenig ernst, dass „man auch von den Lehrern erwarten muss, sich an neue Arbeitsbedingungen anzupassen“ und lobte das Schulamt für dessen „Leistungen“, in diesem Jahr 2.500 „neue Lehrer“ eingestellt zu haben.

Darüber, dass viele Lehrer nur Zeitverträge erhalten und zum Ende des Schuljahres arbeitslos werden, um dann nach 6-wöchiger Arbeitslosen-Phase wieder eingestellt zu werden, sagt sie nichts.

Komplexes Thema – Hilfe gewünscht.

Das Thema ist fraglos komplex. Ich kann als Journalist zu diesem Zeitpunkt nur berichten, was ich gesehen und erlebt habe.

Das Thema „Inklusion“ ist wichtig und wird durch unsere Redaktion weiter bearbeitet werden.

Im Mannheimer Morgen, der Rhein-Neckarzeitung und den Weinheimer Nachrichten wurde kaum kritisch über das wichtige Thema „Inklusion“ und dessen gesellschaftliche und finanzielle Umsetzung berichtet. Hier durften die Ministerin und ihre Staatssekretär gute Laune verbreiten.

Wenn Ihnen diese vergangen ist, wenn Sie mehr zu erzählen haben, als die verkürzten Zeitungsberichte „verkündet“ haben, dann nehmen Sie Kontakt zu uns auf.

Wir wünschen uns Ihre Unterstützung. Als Eltern, als Lehrer, als Rektoren. Kommen Sie auf uns zu, berichten Sie uns von dem, was ist, was Sie sich wünschen und von Ihren Sorgen und Nöten. Wir garantieren Ihnen Vertraulichkeit – aber gleichzeitig Öffentlichkeit für das, was wir durch Sie als Informanten erfahren.

Das „Thema“ ist zu wichtig, um nur für ein paar Monate Wahlkampf missbraucht zu werden.

Kontakt:
Telefon: 06203/ 49 23 16
email: redaktion (at) heddesheimblog.de


Bericht im Mannheimer Morgen

Bericht in der Rhein-Neckar-Zeitung
Bericht in den Weinheimer Nachrichten

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