Heddesheim, 06. Oktober 2009.
Prof. Dr. Hans-Georg Wehling ist einer der renommiertesten Gelehrten der Republik in Sachen Kommunalpolitik. Der Honorarprofessor der Universität Tübingen war Leiter der Abteilung „Publikationen“ bei der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. Er ist Verfasser des Buches „Der Bürgermeister in Baden-Württemberg“ und zahlreicher anderer Publikationen.
Interview: Hardy Prothmann
Herr Professor Wehling. Die Heddesheimer Bevölkerung war gleichzeitig zur Bundestagswahl am 27. September 2009 zu einer Bürgerbefragung aufgerufen. Gefragt wurde, ob die Bürger den Ausbau von Gewerbe und Arbeitsplätzen und eine Ansiedlung des Logisitik-Unternehmens Pfenning wollen oder nicht. Wie interpretieren Sie das Ergebnis?
Hans-Georg Wehling: „Das Ergebnis ist insgesamt sehr eindeutig. Die Mehrheit der Heddesheimer will Entwicklung, die Hälfte der Bürgerschaft lehnt allerdings die Ansiedlung der Firma Pfenning ab.“

Prof. Dr. Hans-Georg Wehling ist Experte für Kommunalpolitik. Bild: privat
Müssen die lokalen Politiker die Ergebnisse für eine politische Bewertung ernst nehmen?
Wehling: „In der Baden-Württembergischen Gemeindeordnung ist eine Bürgerbefragung nicht vorgesehen. Demnach ist das Ergebnis nicht bindend. Allerdings wollte der Heddesheimer Gemeinderat die Meinung der Bürger hören. Somit entsteht eine politische Verbindlichkeit.“
Der Bürgermeister muss darauf achten, die Gemeinde nicht zu spalten.
Was bedeutet das?
Wehling: „Bürgermeister und Gemeinderat sollten darauf achten, dass die Gemeinde hinter den geplanten Projekten steht. In der vorliegenden Situation gibt es zwar eine sehr knappe Zustimmung – die andere Hälfte lehnt das Projekt aber ab. Der Bürgermeister muss darauf achten, die Gemeinde nicht zu spalten.“
Das ist aber nicht so einfach. Immerhin will doch die andere Hälfte das, was die andere nicht will. Was kann man vom Bürgermeister in der Sache erwarten?
Wehling: „Dass er den Willen der Bürger respektiert und seine eigene Position deutlicher rechtfertigt. Die Bürger wollen eine Entwicklung des Gewerbegebiets. Aber eine Hälfte will keine so große Logistikansiedlung vor der Haustür.“
Aus Sicht des Bürgermeisters und wahrscheinlich aus Sicht der knappen Mehrheit des Gemeinderats ist die geplante Ansiedlung des Unternehmens „Pfenning“ aber gut für die Gemeinde.
Wehling: „Das ist nicht unbedingt nachvollziehbar. Ein solches Unternehmen bringt wenig qualifizierte Arbeitsplätze und voraussichtlich nur geringe Gewerbesteuereinnahmen. Eine solche Ansiedlung passt eher in einen anderen gewerblichen Raum.“
Wer nichts anderes erarbeitet hat, greift auf das zurück, was er hat.
Das sehen Bürgermeister, Teile des Gemeinderats und das Unternehmen anders.
Wehling: „Klar, wenn der Bürgermeister und der Gemeinderat keine anderen Möglichkeiten erarbeitet haben. Dann greift man auf das zurück, was man hat.“
Eine grundsätzliche Frage: Sollten Gemeinden darauf achten, ihre Gewerbegebiete auszuweiten, um ihre Kosten finanzieren zu können?
Wehling: „Kleinere und mittlere Gemeinden in Ballungsräumen sind eher gut beraten, sich auf den Zuwachs von Einwohnern zu konzentrieren, das bringt mehr, als der Zuwachs von Gewerbe. Flächenfressende Ansiedlungen mit möglichen Verschandelungen der Landschaft, die den Wohnwert der Gemeinde beeinträchtigen, sind kontraproduktiv.“
Normalerweise wird Wünschen von Firmen mit Weltruf
quasi automatisch statt gegeben.
Haben Sie einen Beleg für diese Aussage?
Wehling: „Nehmen Sie das Beispiel Metzingen. Dort wurde per Bürgerentscheid der Bau eines Logistikzentrums verhindert, obwohl es sich um einen großen lokalen Arbeitgeber, eine Firma von Weltruf handelte. Normalerweise wird solchen Erweiterungswünschen quasi automatisch statt gegeben.“
Wie ging das?
Wehling. „Der Bürgermeister wollte die Ansiedlung, viele Bürger nicht. Der Bürgermeister wollte diese Halle und hat argumentiert: Wenn wir das nicht machen, verlieren wir auch andere Arbeitsplätze. Nach der Niederlage ist der Bürgermeister zurückgetreten, obwohl er dies nicht mit dem Bürgerentscheid verbunden hat. Das ist zu respektieren.“
In Heddesheim wird wild gerechnet. Theoretisch gibt es im Rat eine Mehrheit für die Ansiedlung von 12:9 Stimmen inklusive Bürgermeister und 11:9, wenn der Bürgermeister sich enthält. Ist solch eine knappe Mehrheit demokratisch in Ordnung?
Wehling: „Nach der Gemeindeordnung ja. Aus Sicht des Bürgermeisters wäre eine Enthaltung ein ganz enormer Prestige- und damit Machtverlust. Das käme einer Flucht aus der Verantwortung gleich. Bürgermeister stehen für etwas, sie enthalten sich nicht. Wenn der Bürgermeister mit so einer knappen Mehrheit ein Projekt „durchdrückt“, riskiert er möglicherweise seine Wiederwahl.“
Der Bürgermeister ist aufgerufen, Zuversicht zu vermitteln.
Was würden Sie erwarten?
Wehling: „Der Bürgermeister sollte die Situation positiv nutzen und erkennen, dass ein Entscheidung gegen die Hälfte der Bürger den Ort spalten wird – wenn das nicht schon längst der Fall ist. Es müssen Alternativen gesucht werden. Der Bürgermeister ist an dieser Stelle aufgerufen, Zuversicht zu vermitteln. Dafür hat er einen guten Beleg: Die Bürger wollen Entwicklung – nur nicht diese.“
Moment, es geht ja nicht nur um eine psychologische Stimmung, sondern konkret um Einnahmen für die Gemeinde und die sehen durch die Finanzkrise nicht gut aus.
Wehling: „Die erste Frage ist: Droht der Gemeinde ein Kollaps? Geht es der Gemeinde schlecht?“
Heddesheim hat weniger als 400 Euro Verschuldung pro Kopf.
Wehling: „Das ist eine beruhigende Ausgangsposition und kein Grund, in Panik zu verfallen aufgrund der Finanzkrise.“
Das sehen in Heddesheim nicht alle so.
Wehling: „Die Krise trifft alle Kommunen, aber das bedeutet nicht, dass diese nicht nach vorne in die Zukunft schauen können.“
Gemeinden ohne „Wir“-Gefühl werden irgendwann geschluckt.
Was meinen Sie?
Wehling: „Schauen Sie sich die Entwicklung von Ladenburg an.“
Genauer bitte.
Wehling: „Beispielsweise bürgermeisterliche Prestige-Objekte. Ladenburg hat kein Hallenbad. Warum? Weil der Bürgermeister Reinhold Schultz seinerzeit der Meinung war, dass es genug davon in der Umgebung gibt und das Geld besser in andere Projekte investiert werden kann. Auch die Bauhöhen wurden begrenzt, um das Profil der Gemeinde auch sichtbar zu erhalten, schon aus der Ferne. Die Stadt hat damit an Charakter gewonnen und profitiert heute davon.“
Welchen Profit meinen Sie?
Wehling: „Ladenburg ist eine attraktive Gemeinde mit hohem Wohnwert und einer klaren Identität und hat sich dadurch auf Jahrzehnte ihre Eigenständigkeit bewahrt. Andere Gemeinden, die kein „Wir“-Gefühl haben, werden in der Regel irgendwann „geschluckt“ und sind dann Stadtteile. Das raubt die Möglichkeit für eigenständige Entscheidungen.“
Wie kann man dem entgegen steuern?
Wehling: „Indem man weiß, was man will. Dafür braucht es eine hohe Identifikation mit dem Ort und seinen Zielen. Die Frage ist: Wo wollen wir hin, wer wollen wir sein? Wer darauf eine Antwort hat, kann selbst gestalten.“
Siehe auch: Streitthemen können die Wahlbeteiligung erhöhen
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