Guten Tag!
Heddesheim, 10. September 2010. (red) Ein Zitat zieht Kreise. Wir haben im April unter der Überschrift „Ich bin die Gemeinde“ über eine Diskussion im Gemeinderat zur Rolle der Landschaftsarchitektin Ilsmarie Warnecke berichtet. Bürgermeister Kessler warf uns vor, ihn falsch zitiert zu haben. Wer hat recht?
Vorbemerkung: Sie lesen hier einen relativ langen Artikel, dessen Lektüre sich aber lohnt. Denn es geht um „Grundsätzliches“. Um journalistische Sorgfaltspflicht und bürgermeisterlichen Absolutismus. Um Dokumentation und Protokollierung. Um „erfundene“ und „echte“ Aussagen. Mit einem Wort: Um Fragen nach der „Wahrheit“.
Es geht um die öffentliche Meinung. Es geht um Medienkompetenz. Es geht, vor allem in Heddesheim, um sehr viel.
Es geht um einen Satz, den der Bürgermeister Michael Kessler in der April-Sitzung gesagt haben soll und die Diskussion darüber sowie über die korrekte Protokollführung: „Ich bin die Gemeinde“.
Im Protokoll der Gemeinderatssitzung vom April war der Teil der Diskussion, bei der der Satz gefallen sein soll, nicht enthalten.
Dagegen legte der partei- und fraktionsfreie Gemeinderat Hardy Prothmann Beschwerde ein.
In der Juni-Sitzung nahm der Bürgermeister diesen Punkt auf, legte eine Seite juristische Begründen zur Protokollführung vor, ebenso die Einwände des Gemeinderats Prothmann, schlug Änderungen vor und stellte diese zur Abstimmung im Gemeinderat.
Die meisten Einwände wurden von der Mehrheit des Gemeinderats gemäß der Verwaltungsvorlage nicht zugelassen. Und das betreffende Zitat nicht mit ins April-Protokoll aufgenommen.
Erfundene Überschriften und tatsächliche Zitate.
In der Juni-Sitzung sagte Bürgermeister Kessler, dass der Gemeinderat Prothmann „sein Handeln überdenken und nicht meinen solle, wenn er Überschriften in seinem Blog erfinde, sei dies hier gesagt worden“.
Dann verlas er die Abschrift der Tonbandaufnahmen als „exakten Beleg“ für das Gesagte. Im wesentlichen trifft diese Abschrift zu, aber eben nicht so genau, wie man sich das von jemandem, der es ganz genau nehmen will, erwarten darf. (Anm. d. Red.: Die fett-formatierten Wörter sind gut zu hören, aber in der Gemeindeabschrift nicht enthalten. Wir zeigen die korrekte Dokumentation.)
Kessler: „Doch, das geht so, weil die Frau Warnecke Auftragnehmerin ist und wenn Sie wissen möchten…
Prothmann: „Auftragnehmerin von wem?“
Kessler: „Auftragnehmer von uns. Auftraggeber ist die Gemeinde Heddesheim, Herr Prothmann.“
Prothmann: „Sind Sie die Gemeinde Heddesheim?“
Kessler:“Ja!“
Prothmann: „Gut, dass das auch geklärt wäre.“
„Ich bin die Gemeinde“ vs. „Sind Sie die Gemeinde?“ – „Ja.“
Tatsächlich hat also Bürgermeister Michael Kessler nachweislich der übermittelten Audio-Datei nicht gesagt: „Ich bin die Gemeinde.“ Sondern er hat auf die Frage des Gemeinderats Prothmann: „Sind Sie die Gemeinde?“, deutlich mit: „Ja“, geantwortet.
Ist also das Zitat: „Ich bin die Gemeinde“, tatsächlich erfunden?
Ist es nicht, denn es gibt zutreffend die absolute (oder absolutistische) Aussage wieder, die Herr Kessler getroffen hat, wenn auch nicht exakt wörtlich, so doch inhaltlich.
Journalistisches Zitieren heißt Verantwortung übernehmen.
Beim Zitieren von Personen oder aus Werken ist nicht nur für Wissenschaftler und Protokollanten, sondern auch für Journalisten höchste Sorgfalt geboten. Als Regel gilt: Zitate müssen inhaltlich zutreffen und dürfen nicht sinnentstellend oder -verfremdend sein.
Das heißt aber nicht, dass nur wortwörtliche Zitate zulässig sind. Denn die meisten Menschen reden nicht so „druckreif“, dass man nur das wortwörtlich gesprochene Wort aufschreiben oder senden kann.
Die Realität ist eine ganz andere. Viele Menschen reden eben nicht druckreif, oft werden Sätze angefangen, wieder abgebrochen, Aussagen erst nach mehreren Füllsätzen zu Ende geführt. Würde man dies wortwörtlich zitieren – der Sendeplatz, die Zeitungsseite würden nicht reichen, um das Suchen nach der richtigen Formulierung, das Abschweifen, Fülllaute usw. abzubilden.
Fast jedes Zitat ist nicht „wörtlich“ – und das ist gut so für die zitierte Person.
Deswegen werden im Radio und Fernsehen wörtliche Aussagen „zusammengeschnitten“, bis sie verständlich sind und die Kernaussage enthalten. Ähnlich geht das bei der „Verschriftlichung“ von Aussagen – der Vorteil hier: man muss keine passende „Schnittstelle“ finden, damit man den Schnitt nicht hört.
Oft geht es bei dieser Arbeit nicht nur um die Sendezeit oder die Zahl der Zeilen in der Zeitung, sondern auch um journalistische Verantwortung. Würde man immer eine unbereinigte Protokollierung der tatsächlichen wörtlichen Rede verschriftlichen oder eine ungeschnitte Audio-Aufnahme senden, wäre dies zwar absolut dokumentarisch und authentisch – aber oft zum Schaden des betreffenden Menschern, insbesondere, wenn der sich nicht gut ausdrücken kann.
Das gilt auch für Herrn Kessler, der nun wahrlich kein guter Redner ist. Oft ringt er mit den Worten, ist fahrig in der Satzbildung und seine „äh“-Häufungen sind mehr als auffällig, vor allem, wenn er nervös ist. Zudem ist seine Sprache im Ausdruck und in der Aussprache stark dialektal gefärbt.
Wir sind sicher, dass Herr Kessler nicht wirklich möchte, dass er „wörtlich zitiert“ wird – denn das wäre oft mehr als peinlich.
Zitieren ist eine Kunst.
Es gehört also zur journalistischen Verantwortung, einerseits möglichst zutreffend das „Gesagte“ zu zitieren, dieses aber auch je nach Lage entsprechend in Schriftform zu bringen. Die komprimierte Zusammenfassung auf eine Kernaussage ist dabei tägliches Geschäft von Journalisten. Die Kunst ist, soviel wie nötig und gleichzeitig so wenig wie möglich an dem Zitat zu verändern. In den allermeisten Fällen sind die zitierten Personen sogar dankbar für diese Arbeit.
Dabei muss man immer auch berücksichtigen, dass Lautstärke, Sprechhaltung (demütigt, aggressiv, lustig, ausgelassen) meist nicht von einer Verschriftlichung erfasst werden. Auch Gestik und Mimik entfallen – also „nonverbale“ Ausdrucksformen, die in der zwischenmenschlichen Kommunikation eine wichtige Rolle spielen.
Zitat und Kontext.
Zurück zu Herrn Kessler und unserer journalistischen Sorgfaltspflicht und der Kernaussage. Um diese herauszuarbeiten, muss man immer den Kontext, also den Gesprächsverlauf mit im Blick haben.
Herr Kessler verzichtete darauf, als er die „Abschrift der Tonbandaufnahmen“ in der Gemeinderatssitzung vom Juni wie oben beschrieben dokumentierte.
Wir dokumentieren den exakten Gesprächsverlauf zum Thema von Anfang an bis zur Antwort auf die Frage, ob Herr Kessler die Gemeinde sei, die er mit „Ja“ beantwortet hat (Anm. d. Red. Nicht berücksichtigt sind „ähs“, dialektale Aussprache, sowie Wortansätze, die nicht zu Ende geführt werden. Der Tonfall von Herrn Kessler ist mindestens bestimmt, wenn nicht schon fast aggressiv, der von Herrn Prothmann ohne besondere Auffälligkeiten):
Prothmann: „Frau Warnecke, trifft es zu, dass das der zweite Auftrag ist, den Sie für die Gemeinde machen oder haben Sie schon häufiger für die Gemeinde gearbeitet?“
Kessler: „Was tut das zur Sache, Herr Prothman?“
Warnecke: „Da muss ich nachdenken.“
Prothmann: „Darf ich die Frage stellen?“
Kessler: „Ja, ich frag Sie, was tut die Frage jetzt zur Sache? Dann fragen Sie bitte mich, weil die Frau Warnecke gibt jetzt keine Auskunft über die Anzahl ihrer Aufträge.“
Prothmann: „Ich habe nicht nach der Anzahl…“
Kessler: „…doch bei uns.“
Prothmann: „…ihrer Aufträge gefragt, sondern in Zusammenhang mit der Gemeinde. Dann frage ich Sie, Herr Bürgermeister Kessler, trifft es zu, dass dies der zweite Auftrag ist, der an Frau Warnecke geht?“
Kessler: „Das weiß ich nicht.“
Prothmann: „Das wissen Sie nicht?“
Kessler: „Nein. Das weiß ich spontan nicht. Wenn Sie das wissen möchten, dann sage ich Ihnen das, aber heute nicht, ich weiß es nicht.“
Prothmann: „Dann kann ich doch Frau Warnecke fragen.“
Kessler: „Nein, das fragen Sie nicht. Sie fragen mich. Die Frau Warnecke wird hierzu keine Antwort geben.“
Prothmann: „Frau Warnecke darf nur reden, wenn Sie ihr das erlauben?“
Kessler: „Ja. Genau!“
Prothmann: „Das geht ein bisschen zu weit.“
(Anm. d. Red.: Ab hier beginnt die Dokumentation des Gesprächs auf Veranlassung des Bürgermeisters.)
Kessler: „Doch, das geht so, weil die Frau Warnecke Auftragnehmerin ist und wenn Sie wissen möchten…
Prothmann: „Auftragnehmerin von wem?“
Kessler: „Auftragnehmer von uns. Auftraggeber ist die Gemeinde Heddesheim, Herr Prothmann.“
Prothmann: „Sind Sie die Gemeinde Heddesheim?“
Kessler:“Ja!“
Prothmann: „Gut, dass das auch geklärt wäre.“
Kessler: „Das ist geklärt.“ (lacht)
„Ich bin die Gemeinde“ ist das, was Bürgermeister Kessler nicht wörtlich gesagt, aber zum Ausdruck gebracht hat.
Wir stehen redaktionell zu dem veröffentlichten Zitat: „Ich bin die Gemeinde.“ Denn das ist unserer Auffassung nach die (absolutistische) Kernaussage des Bürgermeisters Michael Kessler vor dem Hintergrund des Gesprächsverlaufs gewesen.
Es handelt sich nicht um eine unbedachte Äußerung im Affekt, sondern gibt die Haltung und die Aussage des Bürgermeisters zutreffend wieder. (Die MM-Redakteurin Anja Görlitz hatte dazu einen Kommentar „Völlig absurd“ geschrieben, dessen Inhalt genau dies war. Zugang für Abonnenten oder Käufer der Tagesausgabe mit Tages-Code oder auf Anfrage an uns.)
Unsere journalistische Leistung und Verantwortung für das Zitat „Ich bin die Gemeinde“ halten wir für einwandfrei.
Wir reihen diesen Artikel aber gleichzeitig in der Rubrik „Korrektur“ ein – weil das von uns veröffentlichte Zitat nicht der „wörtlichen Aussage“ des Bürgermeisters entspricht.
Da Herr Bürgermeister Kessler es gerne genau hat, könnten wir in Zukunft dazu tendieren, ihn tatsächlich wörtlich zu zitieren, inklusive seiner Versprecher, „ähs“, seiner Wortfindungsschwierigkeiten und seines Dialekts. Davon nehmen wir Abstand, weil es nicht unserer Auffassung einer korrekten journalistischen Arbeit entspricht.
Hintergrund:
Es gab in der Vergangeneit fast kein Sitzungsprotokoll, an dem der Gemeinderat Hardy Prothmann oder Vertreter der Fraktion Bündnis90/Die Grünen keine Änderungen verlangten. Auch der FDP-Gemeinderat Frank Hasselbring bestand schon auf Änderungen. Meistens ist der Leiter der Hauptverwaltung, Julien Christof, für das Protokoll verantwortlich.
Bürgermeister Kessler weist meist darauf hin, dass es sich um ein Verlaufs- und kein Wortprotokoll handle.
Ein Mitarbeiter der Redaktion hat einen Brief erhalten, den Bürgermeister Kessler mit Datum vom 05. August 2010 an die Mitglieder der Fraktion Bündnis90/Die Grünen sowie die Fraktionsvorsitzenden der anderen Parteien gesendet hat. Und die Antwort des Gemeinderats auf diesen Brief.
Dem Schreiben an die Grünen hat der Bürgermeister eine CD mit dem „gesamten digitalen Tonbandmitschnitt“ beigelegt, aus der wir die Abschrift dokumentieren.
Der Bürgermeister reagiert mit seinem Schreiben auf einen Artikel des Gemeinderats Andreas Schuster im Gemeindeblatt, der die Diskussion um das Zitat nochmals aufgegriffen hatte: „Ihr erneutes Nachhaken ist für mich ein Versuch, die Verlässlichkeit und Gewissenhaftigkeit unserer Verwaltung – und das hat nichts mit dem Bürgermeister als Person zu tun – öffentlich in Zweifel zu ziehen.“
Der Bürgermeister beklagt „Unsicherheiten im Verhältnis zwischen Bürgern und Verwaltung.“ Der Tonfall des Briefs ist sehr gereizt.
Grünen-Gemeinderat Andreas Schuster antwortet dem Bürgermeister in vermittelndem Tonfall: „Sie fragen mich in Ihrem Brief, ob ich als Gemeinderat daran zweifle, ob „alles mit rechten Dingen zugeht.“ Das tue ich in keiner Weise und habe das auch in meinem Artikel nicht impliziert.“
Weiter schreibt Schuster: „Meiner bescheidenen Meinung nach schadet es dem Ansehen der Gemeinde eher, wenn versucht wird bestimmte Konfliktsituationen zu vermeiden um den Eindruck der Geschlossenheit in der Verwaltung zu suggerieren, als wenn Details gelegentlich klar, deutlich und fair diskutiert werden.“
Dokumentation:
Der Brief des Bürgermeisters Michael Kessler
Der Brief des Gemeinderats Andreas Schuster
Anmerkung der Redaktion:
Hardy Prothmann ist partei- und fraktionsfreier Gemeinderat in Heddesheim und der verantwortliche Journalist für das heddesheimblog.
Neue Kommentare