Mittwoch, 22. MĂ€rz 2023

BĂŒrgermeister Kessler bestĂ€tigt, dass „er“ die Gemeinde ist

Guten Tag!

Heddesheim, 10. September 2010. (red) Ein Zitat zieht Kreise. Wir haben im April unter der Überschrift „Ich bin die Gemeinde“ ĂŒber eine Diskussion im Gemeinderat zur Rolle der Landschaftsarchitektin Ilsmarie Warnecke berichtet. BĂŒrgermeister Kessler warf uns vor, ihn falsch zitiert zu haben. Wer hat recht?

Vorbemerkung: Sie lesen hier einen relativ langen Artikel, dessen LektĂŒre sich aber lohnt. Denn es geht um „GrundsĂ€tzliches“. Um journalistische Sorgfaltspflicht und bĂŒrgermeisterlichen Absolutismus. Um Dokumentation und Protokollierung. Um „erfundene“ und „echte“ Aussagen. Mit einem Wort: Um Fragen nach der „Wahrheit“.
Es geht um die öffentliche Meinung. Es geht um Medienkompetenz. Es geht, vor allem in Heddesheim, um sehr viel.

Es geht um einen Satz, den der BĂŒrgermeister Michael Kessler in der April-Sitzung gesagt haben soll und die Diskussion darĂŒber sowie ĂŒber die korrekte ProtokollfĂŒhrung: „Ich bin die Gemeinde“.

Im Protokoll der Gemeinderatssitzung vom April war der Teil der Diskussion, bei der der Satz gefallen sein soll, nicht enthalten.

Dagegen legte der partei- und fraktionsfreie Gemeinderat Hardy Prothmann Beschwerde ein.

In der Juni-Sitzung nahm der BĂŒrgermeister diesen Punkt auf, legte eine Seite juristische BegrĂŒnden zur ProtokollfĂŒhrung vor, ebenso die EinwĂ€nde des Gemeinderats Prothmann, schlug Änderungen vor und stellte diese zur Abstimmung im Gemeinderat.

Die meisten EinwĂ€nde wurden von der Mehrheit des Gemeinderats gemĂ€ĂŸ der Verwaltungsvorlage nicht zugelassen. Und das betreffende Zitat nicht mit ins April-Protokoll aufgenommen.

Erfundene Überschriften und tatsĂ€chliche Zitate.

In der Juni-Sitzung sagte BĂŒrgermeister Kessler, dass der Gemeinderat Prothmann „sein Handeln ĂŒberdenken und nicht meinen solle, wenn er ÃƓberschriften in seinem Blog erfinde, sei dies hier gesagt worden“.

Dann verlas er die Abschrift der Tonbandaufnahmen als „exakten Beleg“ fĂŒr das Gesagte. Im wesentlichen trifft diese Abschrift zu, aber eben nicht so genau, wie man sich das von jemandem, der es ganz genau nehmen will, erwarten darf. (Anm. d. Red.: Die fett-formatierten Wörter sind gut zu hören, aber in der Gemeindeabschrift nicht enthalten. Wir zeigen die korrekte Dokumentation.)

Kessler: „Doch, das geht so, weil die Frau Warnecke Auftragnehmerin ist und wenn Sie wissen möchten…
Prothmann: „Auftragnehmerin von wem?“
Kessler: „Auftragnehmer von uns. Auftraggeber ist die Gemeinde Heddesheim, Herr Prothmann.“
Prothmann: „Sind Sie die Gemeinde Heddesheim?“
Kessler:“Ja!“
Prothmann: „Gut, dass das auch geklĂ€rt wĂ€re.“

„Ich bin die Gemeinde“ vs. „Sind Sie die Gemeinde?“ – „Ja.“

TatsĂ€chlich hat also BĂŒrgermeister Michael Kessler nachweislich der ĂŒbermittelten Audio-Datei nicht gesagt: „Ich bin die Gemeinde.“ Sondern er hat auf die Frage des Gemeinderats Prothmann: „Sind Sie die Gemeinde?“, deutlich mit: „Ja“, geantwortet.

Ist also das Zitat: „Ich bin die Gemeinde“, tatsĂ€chlich erfunden?

Ist es nicht, denn es gibt zutreffend die absolute (oder absolutistische) Aussage wieder, die Herr Kessler getroffen hat, wenn auch nicht exakt wörtlich, so doch inhaltlich.

Journalistisches Zitieren heißt Verantwortung ĂŒbernehmen.

Beim Zitieren von Personen oder aus Werken ist nicht nur fĂŒr Wissenschaftler und Protokollanten, sondern auch fĂŒr Journalisten höchste Sorgfalt geboten. Als Regel gilt: Zitate mĂŒssen inhaltlich zutreffen und dĂŒrfen nicht sinnentstellend oder -verfremdend sein.

Das heißt aber nicht, dass nur wortwörtliche Zitate zulĂ€ssig sind. Denn die meisten Menschen reden nicht so „druckreif“, dass man nur das wortwörtlich gesprochene Wort aufschreiben oder senden kann.

Die RealitĂ€t ist eine ganz andere. Viele Menschen reden eben nicht druckreif, oft werden SĂ€tze angefangen, wieder abgebrochen, Aussagen erst nach mehreren FĂŒllsĂ€tzen zu Ende gefĂŒhrt. WĂŒrde man dies wortwörtlich zitieren – der Sendeplatz, die Zeitungsseite wĂŒrden nicht reichen, um das Suchen nach der richtigen Formulierung, das Abschweifen, FĂŒlllaute usw. abzubilden.

Fast jedes Zitat ist nicht „wörtlich“ – und das ist gut so fĂŒr die zitierte Person.

Deswegen werden im Radio und Fernsehen wörtliche Aussagen „zusammengeschnitten“, bis sie verstĂ€ndlich sind und die Kernaussage enthalten. Ähnlich geht das bei der „Verschriftlichung“ von Aussagen – der Vorteil hier: man muss keine passende „Schnittstelle“ finden, damit man den Schnitt nicht hört.

Oft geht es bei dieser Arbeit nicht nur um die Sendezeit oder die Zahl der Zeilen in der Zeitung, sondern auch um journalistische Verantwortung. WĂŒrde man immer eine unbereinigte Protokollierung der tatsĂ€chlichen wörtlichen Rede verschriftlichen oder eine ungeschnitte Audio-Aufnahme senden, wĂ€re dies zwar absolut dokumentarisch und authentisch – aber oft zum Schaden des betreffenden Menschern, insbesondere, wenn der sich nicht gut ausdrĂŒcken kann.

Das gilt auch fĂŒr Herrn Kessler, der nun wahrlich kein guter Redner ist. Oft ringt er mit den Worten, ist fahrig in der Satzbildung und seine „Ă€h“-HĂ€ufungen sind mehr als auffĂ€llig, vor allem, wenn er nervös ist. Zudem ist seine Sprache im Ausdruck und in der Aussprache stark dialektal gefĂ€rbt.

Wir sind sicher, dass Herr Kessler nicht wirklich möchte, dass er „wörtlich zitiert“ wird – denn das wĂ€re oft mehr als peinlich.

Zitieren ist eine Kunst.

Es gehört also zur journalistischen Verantwortung, einerseits möglichst zutreffend das „Gesagte“ zu zitieren, dieses aber auch je nach Lage entsprechend in Schriftform zu bringen. Die komprimierte Zusammenfassung auf eine Kernaussage ist dabei tĂ€gliches GeschĂ€ft von Journalisten. Die Kunst ist, soviel wie nötig und gleichzeitig so wenig wie möglich an dem Zitat zu verĂ€ndern. In den allermeisten FĂ€llen sind die zitierten Personen sogar dankbar fĂŒr diese Arbeit.

Dabei muss man immer auch berĂŒcksichtigen, dass LautstĂ€rke, Sprechhaltung (demĂŒtigt, aggressiv, lustig, ausgelassen) meist nicht von einer Verschriftlichung erfasst werden. Auch Gestik und Mimik entfallen – also „nonverbale“ Ausdrucksformen, die in der zwischenmenschlichen Kommunikation eine wichtige Rolle spielen.

Zitat und Kontext.

ZurĂŒck zu Herrn Kessler und unserer journalistischen Sorgfaltspflicht und der Kernaussage. Um diese herauszuarbeiten, muss man immer den Kontext, also den GesprĂ€chsverlauf mit im Blick haben.

Herr Kessler verzichtete darauf, als er die „Abschrift der Tonbandaufnahmen“ in der Gemeinderatssitzung vom Juni wie oben beschrieben dokumentierte.

Wir dokumentieren den exakten GesprĂ€chsverlauf zum Thema von Anfang an bis zur Antwort auf die Frage, ob Herr Kessler die Gemeinde sei, die er mit „Ja“ beantwortet hat (Anm. d. Red. Nicht berĂŒcksichtigt sind „Ă€hs“, dialektale Aussprache, sowie WortansĂ€tze, die nicht zu Ende gefĂŒhrt werden. Der Tonfall von Herrn Kessler ist mindestens bestimmt, wenn nicht schon fast aggressiv, der von Herrn Prothmann ohne besondere AuffĂ€lligkeiten):

Prothmann: „Frau Warnecke, trifft es zu, dass das der zweite Auftrag ist, den Sie fĂŒr die Gemeinde machen oder haben Sie schon hĂ€ufiger fĂŒr die Gemeinde gearbeitet?“
Kessler: „Was tut das zur Sache, Herr Prothman?“
Warnecke: „Da muss ich nachdenken.“
Prothmann: „Darf ich die Frage stellen?“
Kessler: „Ja, ich frag Sie, was tut die Frage jetzt zur Sache? Dann fragen Sie bitte mich, weil die Frau Warnecke gibt jetzt keine Auskunft ĂŒber die Anzahl ihrer AuftrĂ€ge.“
Prothmann: „Ich habe nicht nach der Anzahl…“
Kessler: „…doch bei uns.“
Prothmann: „…ihrer AuftrĂ€ge gefragt, sondern in Zusammenhang mit der Gemeinde. Dann frage ich Sie, Herr BĂŒrgermeister Kessler, trifft es zu, dass dies der zweite Auftrag ist, der an Frau Warnecke geht?“
Kessler: „Das weiß ich nicht.“
Prothmann: „Das wissen Sie nicht?“
Kessler: „Nein. Das weiß ich spontan nicht. Wenn Sie das wissen möchten, dann sage ich Ihnen das, aber heute nicht, ich weiß es nicht.“
Prothmann: „Dann kann ich doch Frau Warnecke fragen.“
Kessler: „Nein, das fragen Sie nicht. Sie fragen mich. Die Frau Warnecke wird hierzu keine Antwort geben.“
Prothmann: „Frau Warnecke darf nur reden, wenn Sie ihr das erlauben?“
Kessler: „Ja. Genau!“
Prothmann: „Das geht ein bisschen zu weit.“
(Anm. d. Red.: Ab hier beginnt die Dokumentation des GesprĂ€chs auf Veranlassung des BĂŒrgermeisters.)
Kessler: „Doch, das geht so, weil die Frau Warnecke Auftragnehmerin ist und wenn Sie wissen möchten…
Prothmann: „Auftragnehmerin von wem?“
Kessler: „Auftragnehmer von uns. Auftraggeber ist die Gemeinde Heddesheim, Herr Prothmann.“
Prothmann: „Sind Sie die Gemeinde Heddesheim?“
Kessler:“Ja!“
Prothmann: „Gut, dass das auch geklĂ€rt wĂ€re.“
Kessler: „Das ist geklĂ€rt.“ (lacht)

„Ich bin die Gemeinde“ ist das, was BĂŒrgermeister Kessler nicht wörtlich gesagt, aber zum Ausdruck gebracht hat.

Wir stehen redaktionell zu dem veröffentlichten Zitat: „Ich bin die Gemeinde.“ Denn das ist unserer Auffassung nach die (absolutistische) Kernaussage des BĂŒrgermeisters Michael Kessler vor dem Hintergrund des GesprĂ€chsverlaufs gewesen.

Es handelt sich nicht um eine unbedachte Äußerung im Affekt, sondern gibt die Haltung und die Aussage des BĂŒrgermeisters zutreffend wieder. (Die MM-Redakteurin Anja Görlitz hatte dazu einen Kommentar „Völlig absurd“ geschrieben, dessen Inhalt genau dies war. Zugang fĂŒr Abonnenten oder KĂ€ufer der Tagesausgabe mit Tages-Code oder auf Anfrage an uns.)

Unsere journalistische Leistung und Verantwortung fĂŒr das Zitat „Ich bin die Gemeinde“ halten wir fĂŒr einwandfrei.

Wir reihen diesen Artikel aber gleichzeitig in der Rubrik „Korrektur“ ein – weil das von uns veröffentlichte Zitat nicht der „wörtlichen Aussage“ des BĂŒrgermeisters entspricht.

Da Herr BĂŒrgermeister Kessler es gerne genau hat, könnten wir in Zukunft dazu tendieren, ihn tatsĂ€chlich wörtlich zu zitieren, inklusive seiner Versprecher, „Ă€hs“, seiner Wortfindungsschwierigkeiten und seines Dialekts. Davon nehmen wir Abstand, weil es nicht unserer Auffassung einer korrekten journalistischen Arbeit entspricht.

Hintergrund:
Es gab in der Vergangeneit fast kein Sitzungsprotokoll, an dem der Gemeinderat Hardy Prothmann oder Vertreter der Fraktion BĂŒndnis90/Die GrĂŒnen keine Änderungen verlangten. Auch der FDP-Gemeinderat Frank Hasselbring bestand schon auf Änderungen. Meistens ist der Leiter der Hauptverwaltung, Julien Christof, fĂŒr das Protokoll verantwortlich.

BĂŒrgermeister Kessler weist meist darauf hin, dass es sich um ein Verlaufs- und kein Wortprotokoll handle.

Ein Mitarbeiter der Redaktion hat einen Brief erhalten, den BĂŒrgermeister Kessler mit Datum vom 05. August 2010 an die Mitglieder der Fraktion BĂŒndnis90/Die GrĂŒnen sowie die Fraktionsvorsitzenden der anderen Parteien gesendet hat. Und die Antwort des Gemeinderats auf diesen Brief.

Dem Schreiben an die GrĂŒnen hat der BĂŒrgermeister eine CD mit dem „gesamten digitalen Tonbandmitschnitt“ beigelegt, aus der wir die Abschrift dokumentieren.

Der BĂŒrgermeister reagiert mit seinem Schreiben auf einen Artikel des Gemeinderats Andreas Schuster im Gemeindeblatt, der die Diskussion um das Zitat nochmals aufgegriffen hatte: „Ihr erneutes Nachhaken ist fĂŒr mich ein Versuch, die VerlĂ€sslichkeit und Gewissenhaftigkeit unserer Verwaltung – und das hat nichts mit dem BĂŒrgermeister als Person zu tun – öffentlich in Zweifel zu ziehen.“

Der BĂŒrgermeister beklagt „Unsicherheiten im VerhĂ€ltnis zwischen BĂŒrgern und Verwaltung.“ Der Tonfall des Briefs ist sehr gereizt.

GrĂŒnen-Gemeinderat Andreas Schuster antwortet dem BĂŒrgermeister in vermittelndem Tonfall: „Sie fragen mich in Ihrem Brief, ob ich als Gemeinderat daran zweifle, ob „alles mit rechten Dingen zugeht.“ Das tue ich in keiner Weise und habe das auch in meinem Artikel nicht impliziert.“

Weiter schreibt Schuster: „Meiner bescheidenen Meinung nach schadet es dem Ansehen der Gemeinde eher, wenn versucht wird bestimmte Konfliktsituationen zu vermeiden um den Eindruck der Geschlossenheit in der Verwaltung zu suggerieren, als wenn Details gelegentlich klar, deutlich und fair diskutiert werden.“

Dokumentation:
Der Brief des BĂŒrgermeisters Michael Kessler
Der Brief des Gemeinderats Andreas Schuster

Anmerkung der Redaktion:
Hardy Prothmann ist partei- und fraktionsfreier Gemeinderat in Heddesheim und der verantwortliche Journalist fĂŒr das heddesheimblog.