Samstag, 01. April 2023

Dokumentation: Streit um Twitter & co – oder die Angst vor der Transparenz und Meinungsfreiheit

Guten Tag!

Heddesheim/Rhein-Neckar, 25. Februar 2011. Der Heddesheimer Bürgermeister Michael Kessler, die CDU, die SPD und die FDP haben ein Problem mit dem „Verhalten“ des partei- und fraktionsfreien Gemeinderats Hardy Prothmann. Der Vorwurf: Durch „Twittern“ missachte GR Prothmann den Rat. Der Streit um Twitter & co ist nicht auf Heddesheim begrenzt.

In Augsburg gab es Ende 2009 Zoff ums Twittern. Erst im Sommer 2010 wurde es wieder erlaubt. Quelle: Augsburger Allgemeine

Der „Streit“ um den „Anstand“ zwischen konservativen Bürgermeistern, ihren jeweiligen „Rats-Mehrheiten“ und progressiven Gemeinderäten wird landauf, landab geführt. Im Kern geht es um die Kontrolle der „Deutungshoheit“. Einzelne Gemeinderäte oder kleine Fraktionen sollen sich der „Mehrheit“ unterordnen. Meinungsfreiheit ist dabei eher ein gering geachtetes Gut.

Wutentbrannte Reaktion

Am 18. Dezember 2009 berichtet beispielsweise die Augsburger Allgemeine Zeitung unter der Überschrift: „Debatte um Kommunikationsdienst – Ärger um Twitter-Nachrichten aus dem Augsburger Stadtrat“ über den damals 26-jährigen Stadtrat Christian Moravcik (Grüne). Moravcik hatte getwittert und andere Stadträte fühlten sich dadurch angeblich „gestört“.

Lange Zeit allerdings nicht – es war laut Bericht „seit Monaten bekannt“, dass der junge Mann den Internet-Dienst nutzt. Doch bei einer Sitzung verfolgte eine CSU-Stadträtin am Notebook, was der „Kollege“ denn da so an Nachrichten verbreitet.

Eine Bemerkung über den CSU-Fraktionschef führte zum Eklat. Die Augsburger Allgemeine, ebenfalls eher eine konservative Zeitung, berichtete: „Kränzle reagierte wutentbrannt.“

Es folgten monatelange Diskussionen um ein Verbot und schließlich eine „Selbstverpflichtung“, wie Twitter zu benutzen sei. Die Augsburger Allgemeine berichtet am 24. August 2010: „Augsburger Stadtrat: Twittern wieder erlaubt.

Die Thüringische „Goethe- und Universitätsstadt“ Ilemnau (rund 26.000 Einwohner) ist da weiter. Sie achtet die Meinungfreiheit.

Hier ist Twittern sogar ins Ortsrecht aufgenommen worden.

In Ilmenau ist Twittern per Ortsrecht erlaubt

In der „Geschäftsordnung für den Stadtrat und die Ausschüsse sowie die Ortsteilräte der Stadt Ilmenau vom 5. November 2009“ heißt es unter Paragraf 3 „Öffentlichkeit der Sitzungen“:

„(5) Tonbandaufzeichnungen sowie Filmaufnahmen durch Dritte sind nur mit einstimmiger
Zustimmung des Stadtrates zulässig. Die Zustimmung gilt als erteilt für Fotoaufnahmen,
wenn sie durch Journalisten vom Presseplatz aus erfolgen.
(6) Elektronische Informationen aus der öffentlichen Sitzung (z. B. Twittern) heraus sind
erlaubt. Dies gilt nicht für die nichtöffentliche Sitzung. Nur derjenige, der die elektronische
Information in das Internet eingibt, ist für die Rechtsfolgen der Verbreitung der
elektronischen Kurzinformation verantwortlich.“

Dort darf also die Presse sogar vom Platz aus fotografieren und bei Zustimmung des Stadtrates sogar filmen oder Tonbandaufnahmen machen.

In Weinheim ist die CDU Vorreiter

Im Weinheimer Gemeinderat gibt es ebenfalls Stadträte, die sich sozialer Netzwerke bedienen, darunter mindestens ein Stadtrat der CDU.

Die Städte Ladenburg und Weinheim sowie die Gemeinde Hirschberg, über die unsere Redaktion auch berichtet, sind darüber informiert, dass wir vom Pressetisch aus während der Sitzung twittern, Einträge bei Facebook vornehmen und sogar aus der Sitzung heraus nach Beschlussfassung Artikel sofort veröffentlichen.

Die Gemeinderäte und Bürgermeister dieser Kommunen haben nichts dagegen einzuwenden und verhalten sich in dieser Hinsicht vorbildlich in bezug auf Meinungsfreiheit und Transparenz.

Verboten sind dort wie in vielen Gemeinderäte Ton-, Film- und Fotoaufnahmen, außer, sie werden ausdrücklich gebilligt.

In Heddesheim lässt der Bürgermeister „observieren“

In Heddesheim hingegen rügte der Bürgermeister Michael Kessler den partei- und fraktionsfreien Gemeinderat Hardy Prothmann zum wiederholten Male, „Twittern“ sei eine Missachtung des Gemeinderats.

Hier hat Hardy Prothmann einen von "kooptech" Tweet "retweetet", was man am vorgestellten RT erkennt. "kooptech" ist die renommierte IT-Journalistin Christiane Schulzi-Haddouti. Quelle: twitter.com

Der Bürgermeister Kessler lässt dazu die Twitter-Aktivität des Gemeindrats Prothmann während der Sitzung durch Gemeindebeamte beobachten. Die Arbeitsanweisung scheint klar zu sein. Sobald eine Nachricht auftaucht, in die man aus Sicht der Verwaltung eine „Missachtung“ hineininterpretieren kann, unterbricht der Bürgermeister die Sitzung, um eine „Stellungnahme“ vorzunehmen.

Die Frage, inwieweit es sich um eine Missachtung des Gemeinderats durch die Verwaltungsmitarbeiter und den Bürgermeisters handelt, wenn diese während der Sitzung im Internet Twittermeldungen lesen, ist in der Sitzung vom 24. Febraur 2011 nicht geklärt worden.

Angst vor „Kontrollverlust“

Der Hintergrund für Auseinandersetzungen in Augsburg, Heddesheim oder anderswo ist sicherlich mit der Angst vor „Kontrollverlust“ zu begründen.

Obwohl es sich um öffentliche Gemeinderatssitzungen handelt, war man es lange gewohnt, dass sich die Fraktionen und Verwaltungen im Vorfeld der Sitzungen absprechen. Man kann das auch „Hinterzimmerdemokratie“ nennen oder „Gemauschel“ oder wie auch immer.

Die wenigen Bürger, die bei solchen Sitzungen anwesend sind, erhalten keine Hintergrundinformationen, erleben keine tatsächliche Debatte. Die „Öffentlichkeit“ wird im Nachgang häufig über Monopolzeitungen informiert. Politikverdrossenheit ist da vorprogrammiert.

Eigene Meinungen und Sichtweisen und eine zeitnahe Verbreitung (ver-)stören da viele „Traditionalisten“, die sich weder einer kritischen Öffentlichkeit und schon gar nicht kritischen Gemeinderatsmitgliedern, die alle demokratisch gewählt wurden, stellen wollen.

Einen schönen Tag wünscht
Das heddesheimblog

Anmerkung der Reaktion:
Hardy Prothmann ist verantwortlich für das heddesheimblog und ehrenamtlicher, partei- und fraktionsfreier Gemeinderat in Heddesheim.

Schöne Bescherung – 10 Jahre Datenschutz seit 2000

Guten Tag!

Heddesheim, 24. Dezember 2009. Der Datenschutz und „das verlorene Jahrzehnt„, überschreibt die Journalistin und Wissenschaftlerin Christiane Schulzki-Haddouti ihren Text. Ihr Name ist Programm. Er klingt seltsam. Christiane Schulzki-Haddouti berichtet auch über „seltsame“ Themen. Aktuell über Datenschutz.

Von Christiane Schulzki-Haddouti

Das verlorene Jahrzehnt

Ein Rückblick mit Datenschutz-Brille auf das bald zu Ende gehende erste Jahrzehnt dieses Jahrhunderts zeigt: Es war nicht nur ein verlorenes Jahrzehnt, es war ein katastrophales Jahrzehnt – mit Folgen, die so schnell nicht mehr zu reparieren sind. Ab es gibt Anlass zur Hoffnung …

Über den Datenschutz und die IT-Sicherheit habe ich etwa sieben Jahre lang engagiert berichtet und publiziert – doch irgendwann war bei mir der Schwung weg. Lange habe ich geschrieben in der Hoffnung, es müsse sich doch endlich etwas verbessern. Im Sommer 2001 saß ich an meinem Buch „Datenjagd im Internet“ und ließ in einem Artikel zur „Internationalen Abhörpolitik“ Revue passieren über die Jahre, die die Vorratsdatenspeicherung eingeläutet hatten.

Ich dachte mir damals: Das ist so ungeheuerlich undemokratisch – das wird keinen Bestand haben. Da muss es einen Aufschrei geben. Aber – es kam keiner. Es kam der 11. September – und damit ging jede Hoffnung, einen selbstbestimmten Datenschutz zu etablieren, auf lange Zeit verloren. Mein Buch erschien übrigens nur wenige Tage später – und verkaufte sich nur mäßig. Das Interesse am Thema Datenschutz war schlagartig erloschen.

Der Aufschrei kam erst, als die Vorratsdatenspeicherung auf europäischer Ebene durch war. Damals sagte mir Helmut Bäumler: Das muss eine Bewegung wie zur Volkszählung geben. Doch da war es, für meine Begriffe, gelaufen: Die Medien hatten versagt, weil sie das Thema nicht rechtzeitig erkannt haben. Weil ihnen Brüssel zu weit weg scheint, zu irrelevant.

Das ist ein Phänomen, das bis heute in Europa zu sehen ist – und daran haben auch hellsichtige Studien wie die „Blackbox Brüssel“ leider nichts geändert. Die Zivilgesellschaft hatte versagt, weil sie nicht schnell genug mobilisieren konnte. Weil die Daumenschrauben über die Sicherheitspakete erst noch viel härter angezogen werden mussten, bis endlich ein Gefühl der Bedrohung entstehen konnte.

Damals, 2001, hießen die Schlagworte noch Echelon, Enfopol und TKÜV. Bereits 1998 hatte ich einen, aus meiner Sicht, ziemlich wagemutigen Artikel geschrieben, der Enfopol als Legalisierung von Echelon bezeichnete. Fast wollte ich den Beitrag wieder zurückziehen, da er mir zu schwarzseherisch, zu spekulativ, zu unjournalistisch vorgekommen war. Doch rückblickend muss ich feststellen: Die Fahrtrichtung stimmte.

Wenn das Bundesverfassungsgericht die Vorratsdatenspeicherung nun jetzt nicht kippt, werden wir im nächsten Jahrzehnt erleben, wie diese und viele andere Datenbanken wie etwa die über Steuerdaten, Bankdaten, Fluggastdaten, Fahndungsdaten oder Mautdaten zunächst für Einzelfälle fusioniert werden. Und wir werden politische Diskussionen darüber führen müssen, ob sie auch für schwere Straftaten systematisch verwendet werden dürfen.

Wobei der Begriff „schwere Straftat“ zunehmend subjektiv bewertet wird, wenn man sich die Diskussionen in der Musik- und nun auch in der Buchbranche anhört. Wenn eine solche systematische Auswertung der – dank der Fortschritte in der IT immer größeren, schneller arbeitenden – Datenbanken über nationales Recht („Verfassungsbedenken“) nicht gehen sollte, bleibt ja noch der bewährte Weg über den europäischen Hinterhof.

Heute gibt es jedoch, anders als noch 2001, viel mehr Menschen, die ihre Bürgerrechte auch im digitalen Raum für sich reklamieren – und sich zunehmend organisieren. Es sind heute nicht mehr die Minderheiten von Geeks und Nerds, die das Internet leidenschaftlich nutzen – sondern gesellschaftliche Mehrheiten: Es sind unsere Kinder, unsere Eltern, die tagtäglich irgendetwas googlen oder in sozialen Netzwerken kleine Datenhäppchen veröffentlichen.

Social Media bietet viele Werkzeuge, sich zu informieren, sich zu organisieren, Informationen zu verbreiten und Menschen zu mobilisieren. Ich habe daher wieder Hoffnung, dass das nächste Jahrzehnt auch das Jahrzehnt werden könnte, in dem der Datenschutz als Bürgerrecht aktiv eingefordert wird.

P.S. Ich setze übrigens jetzt erstmals auf Wolfgang Schäuble – als Bundesfinanzminister: Statt die Daten unschuldiger Bürger für Rasterfahndungen einzufordern, könnte er nun mal einen bewährten Ratschlag umsetzen, dem schon die Watergate-Enthüller folgten: „Follow the Money“. Saubere Polizeiarbeit mit zweckgebundenen Bankdaten und Schutz für unschuldige Kommunikationsdaten! Warum sollte das schwer sein?

Info:
Christiane Schulzki-Haddouti (hier bei Carta) hat sich einen Namen durch profunden Journalismus in Sachen „Informationstechnologie“ erarbeitet. Wer je einen ihrer fachlich fundierten und nachgedachten Artikel gelesen hat, weiß, dass Christiane Schulzki-Haddouti nicht nur einen merkenswerten Namen hat, sondern eine herausragende Journalistin ist. Sie hat lange in der „Wüste“ gearbeitet. Da, wo keine „Top“-Stories zu erwarten sind. „Top“ ist, was möglichst viele interessiert.
Christiane Schulzki-Haddouti liefert „Top“-Stories: Geschichten, die man kennen sollte, wenn man mitreden will.

Die Redaktion bedankt sich für die freundliche Genehmigung, den Text übernehmen zu dürfen.

Einen schönen Tag wünscht
Das heddesheimblog