
GĂŒnter Krass hat mit seinem Gedicht "Was gesagt werden muss" eine lĂ€ngst notwendige Debatte ausgelöst. Bild: Wikipedia, Florian K, CC BY-SA 3.0
Rhein-Neckar, 16. April 2012. (red/pro) Was stimmt mit uns Deutschen nicht? Können wir nicht normal sein? Einfach mit Kritik umgehen? Uns ihr stellen, mit ihr an uns arbeiten? Der Schriftsteller GĂŒnter Grass hat mit seinem Beitrag den Nerv einer chronisch leidenden Gesellschaft getroffen und das ist gut so. Die Debatte erreicht jede Stadt, jedes Dorf in Deutschland. Sie sollte jeden Stammtisch und jede Familie, jeden Menschen erreichen, denn die Zeit ist lĂ€ngst reif dafĂŒr.
Von Hardy Prothmann
Ganz sicher ist die Debatte um den Beitrag des LiteraturnobelpreistrĂ€gers GĂŒnter Grass auf den ersten Blick ein nationales und sogar internationales Thema.
Ist das so?
Ganz sicher zeigt der zweite Blick auf das Thema eine Debatte, das uns alle betrifft. Ăberall. Hier und dort. Vor Ort. Direkt.
Das vermeintliche âGedichtâ von Herrn Grass, âWas gesagt werden mussâ, hat enorme internationale Wellen geschlagen und einen politischen Diskurs ausgelöst, der uns alle angeht.
Meinungsfragen
Die entscheidenden Fragen lauten:
Wie geht man mit Kritik um? Was bedeutet Meinungsfreiheit? Was Meinungsvielfalt? Gibt es die Möglichkeit der freien Rede und Gegenrede? Wer urteilt, was richtig, was falsch ist? Was bedeutet Verantwortung im Zusammenhang mit Fragen? Gibt es in der Postmoderne tatsĂ€chlich noch Tabu-Themen, ĂŒber die man nicht reden darf?
Der Schriftsteller GĂŒnter Grass musste im Alter von 84 Jahren etwas loswerden. WĂ€re GĂŒnter Grass nur ein alter Mann – wer hĂ€tte sich dafĂŒr interessiert?
Niemand? Richtig.
GĂŒnter Grass ist aber ein bekannter Schriftsteller. Und LiteraturnobelpreistrĂ€ger. Und er war als junger Mann Mitglied der Waffen-SS im Dritten Reich, was er lange verschwiegen hat.
Und er tut, was niemand tut, will man nicht sofort in eine rechte Ecke gestellt werden. Und das trotz seiner Vergangenheit: Er Ă€uĂert harsche Kritik an der AuĂenpolitik Israels.
Nicht an der Innenpolitik, der Wirtschaftspolitik, der Sozialpolitik. Grass macht das groĂe Fass auf und spricht davon, dass Israel den âWeltfrieden gefĂ€hrdetâ.
Die vernichtenden Kritiken ĂŒber seinen Text sind zahlreich. Die Empörung eindeutig. Die Haltung klar: Man kritisiert Israel nicht. Schon gar nicht als Aggressor im Nahen Osten.
StaatrÀsonismus
Vor allem nicht als Deutscher. Denn es gibt eine historische âVerantwortungâ, die jede Kritik und jede Frage verbietet, das gebietet allein schon die von der Bundeskanzlerin zur âStaatsrĂ€sonâ erklĂ€rten âHaltungâ.
Ist das so?
Man muss GĂŒnter Grass fĂŒr seine extreme Ăberzeichnung dankbar sein, denn er hat erreicht, dass sich die Extreme und die Ăberzeichnungen zu Wort melden und verorten.
Das durch den israelischen Innenminister Eli Jischai gegenĂŒber dem Schriftsteller erlassene Einreiseverbot wird selbst in israelischen Medien als âhysterischâ bezeichnet.
BundestagsvizeprĂ€sident Thierse wirft sich fĂŒr den Schriftsteller in den Ring und bezeichnet Anwerfungen, dieser sei ein Antisemit als âhaltlosâ.
Was denken wir ĂŒber all das? Jeder von uns? Ich, Sie, Du? Debattieren wir darĂŒber?
Debattiert so viel ihr könnt

GĂŒnter Grass 2004 bei der Buchmesse in Frankfurt. Bild: Wikipedia, Florian K, CC BY-SA 3.0
Hoffentlich tun das viele unserer Leserinnen und Leser. Und das ist gut so. Sich mit einer Sache auseinanderzusetzen. Denn das ist die Ăbersetzung von Kritik.
Und nichts anderes hat Herr Grass getan. Er hat sich auseinander gesetzt, seine Meinung geĂ€uĂert und sich damit demokratisch dem Diskurs gestellt.
Inhaltlich mag sein âGedichtâ groĂe SchwĂ€chen haben. Die gröĂte ist, dass man eine solch verfahrene Situation, wie sie im Nahen Osten herrscht, noch so sehr âverdichtenâ kann – sie ist zu komplex, um sie vernĂŒnftig in einem Text abbilden zu können.
Deshalb muss man sie aufteilen und die Teile diskutieren. Und den Anfang zu dieser Debatte hat Herr Grass erreicht. Er hat es geschafft, dass sich viele besserwissende sofort empört geĂ€uĂert haben, um feststellen zu mĂŒssen, dass die grassâsche Kritik vielleicht nicht ganz richtig, aber auch nicht ganz falsch ist.
GĂŒnter Grass hat es erreicht, dass ĂŒber Tabus gesprochen wird, die viele Menschen beschĂ€ftigen und die, weil Tabus, öffentlich nicht thematisiert werden dĂŒrfen sollen. Grass hat also Ăffentlichkeit geschaffen, den Austausch von Meinungen angeregt und hat damit einen demokratischen Prozess ausgelöst.
Deutungshoheiten der Zirkel
Wer ihn deswegen sofort zum Antisemiten abstempelt, will keinen demokratischen Diskurs, sondern einen Hieb mit der Moralkeule. Es sollen keine Fragen gestellt werden dĂŒrfen. Die Deutungshoheit ist allein kleinen Zirkeln ĂŒberlassen. Ist das demokratisch?
Wer das Gesamtwerk von Grass sieht und seine ĂŒber Jahrzehnte verschwiegene Mitgliedschaft in der Waffen-SS, erkennt eine zerrissene Figur. Einen, der eitel und selbstherrlich ist. Neudeutsch âerfolgsgeilâ, was ihm viele vorwerfen, die aber wie ein Reich-Ranicki oder Broder selbst auf der Debatten-Welle mitschwimmen, ohne viel zum Thema beitragen zu können. Aber Hauptsache, sie reden mit oder es wird ĂŒber sie geredet, wobei sie jedem, der ihnen nicht genehm ist, genau das vorwerfen.
Wer die Debatte um das Thema verfolgt, sieht jede Menge AnwĂŒrfe, die jede Interessengruppe fĂŒr sich zu nutzen sucht.
Und wer ĂŒber all dem darĂŒber nachdenkt, was der Text von Grass bewirkt hat, erkennt: Es ist eine âgrasseâ Debatte.
Mit einem FĂŒr und Wider. Einem Hin und Her. Und all das ist gut und sinnvoll.
Denn âPositionenâ haben die Chance, neu ĂŒberdacht und definiert zu werden. Man kann aus der Vergangenheit lernen, sie mit dem Jetzt abgleichen und fĂŒr die Zukunft Ziele entwickeln.
Das geht nur durch Einlassungen von kritischen Geistern.
Tabus brechen
Abnicker, Zusager, Nichtfrager, Nichtwisser haben in der Vergangenheit und Gegenwart immer nur fĂŒr groĂes Leid und viel BlutvergieĂen gesorgt.
GĂŒnter Grass hat weder ein literarisch wertvolles, noch stilistisch anerkennenswertes âGedichtâ geschrieben. Das ist meine persönliche Meinung.
Ebenso finde ich seine Position zu ĂŒberzeichnet. Aber ich bin sehr froh, dass er das Gewicht seiner Persönlichkeit nutzt, um die Debatte ĂŒber Tabus anzuregen.
Er ist ein alter Mann, hat sein Leben und sein Geld verdient, schlieĂt irgendwann mit âletzter Tinteâ ab. Und er hat enorm viel negative Energien auf sich gezogen – egal, ob zu Recht oder Unrecht -, statt einfach seinen âLebensabend zu genieĂenâ.
Persönlich hat mich Grass als Schriftsteller nicht interessiert. Mich spricht sein Werk nicht an. Das ist aber eine Geschmackssache.
Persönlich habe ich groĂen Respekt vor diesem Mann, weil er sich traut, eine Meinung zu haben. Trotz aller Kritik, die seine Meinung durch andere auf sich zieht.
Persönlich habe ich meine Meinung und meine Geschichte. Mein GroĂvater beispielsweise ist 1928 geboren worden und hat als 16-JĂ€hriger jĂŒngere Kinder in den letzten Kriegsjahren in Sachsen als âGebirgsjĂ€ger ausgebildetâ.
Und er hat mir gegenĂŒber zugegeben, dass er damals an den âFĂŒhrerâ geglaubt hat und erst spĂ€ter erkannt hat, welchem Ăbel er anhĂ€ngig war. Fast jeder von uns Deutschen hat so einen âLinkâ, so eine Verbindung, in die Vergangenheit. Und egal, wie wenig man damit âpersönlichâ zu tun hat. Die historische Schuld bleibt. Und sie ist schrecklich.
Verantwortung fordert Fragen
Die Verantwortung aber, sich gegen Krieg, gegen Genozid, gegen Unrecht einzusetzen, ist eine Verantwortung, die gerade die Deutschen historisch am besten vertreten können. So kann die Schuld zur Chance werden. Wenn man bereit ist, verantwortlich zu sein. Um verantwortlich zu sein, muss man aber Fragen stellen dĂŒrfen, können und wollen.
Verantwortung ergibt sich sicherlich nicht dadurch, indem man sich keinem Diskurs stellt, keinen Fragen, keinen Haltungen. Wer sich so verhÀlt, muss sich den Vorwurf des Gleichschaltens, des Gleichmarschierens, des Faschistischen gefallen lassen.
Wer bereit ist, sich mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen, Kritik zu ĂŒben und auszuhalten, fĂŒr seine Haltung zu werben unter Anerkennung unseres Grundgesetzes, der agiert demokratisch und verantwortlich.
Wer eine berechtigte Kritik eines Schriftstellers missbraucht, um diesen und andere mundtot zu machen, agiert antidemokratisch.
GĂŒnter Grass hat mit seinem âGedichtâ sehr krasse Reaktionen hervorgerufen, die zeigen, wie wenig demokratisch viele Medien in Deutschland gesinnt sind, obwohl wir doch schon mindestens sechs Jahrzehnte Zeit hatten, um zu ĂŒben.
Die Debatte hat gezeigt, wie wenig demokratisch der Staat Israel unter seiner aktuellen Regierung ist.
Traumatisierungen
Und er hat ins Bewusstsein gerufen, dass ein Konflikt droht, der sicherlich kein iranisches Volk auslöscht, aber die Region und die Welt massiv zu traumatisieren in der Lage ist.
Und wer, wenn nicht wir Deutschen, haben eine bessere Vorstellung davon, was es heiĂt, andere zu traumatisieren und selbst traumatisiert zu sein? Und wer, wenn nicht wir Deutschen können ehrlicher und glaubhafter uns dafĂŒr einsetzen, dass es nicht woanders zu VerwĂŒstung, Zerstörung und Verfolgung kommt?
Mein Deutschland ist ein Land der Demokratie, des Austausches von Meinungen, des Ringens um Mehrheiten um eine gröĂtmögliche Freiheit der Menschen zu ermöglichen.
Ein Land, dass sich um Fortschritt des Lebens statt fĂŒr den RĂŒckschritt des Tötens einsetzt.
Ich empfinde es als ekelhaft, wenn irgendjemand argumentiert, ein israelischer âErstschlagâ wĂŒrde nicht das âgesamteâ iranische Volk auslöschen, sondern nur âTeileâ. Mir wird schlecht, wenn ich Argumente lese, man mĂŒssen Israel einen âZweitschlagâ ermöglichen, um, nachdem man selbst gröĂte Verluste habe, dem anderen auch noch welche zufĂŒgen zu können. Wer so zynisch argumentiert, hat keine Respekt vor dem Leben.
Jeder vernĂŒnftige Mensch wird solche âDebattenâ nicht nur ablehnen, sondern sich vernĂŒnftigerweise verweigern, weil sie an Dummheit nicht zu ĂŒbertreffen sind.
Meinungsvernichtungswaffen
Jeder von uns ist aufgerufen, sich dringlich eine Meinung zum Thema zu bilden. GĂŒnter Grass hat in Deutschland zu Recht eine Debatte ausgelöst, bevor âFaktenâ geschaffen werden. Die Konflikte im Nahen Osten sind geeignet, den Weltfrieden zu gefĂ€hrden – die Konflikte bestimmen schon seit Jahrzehnten unser Leben, ohne das es âmöglichâ war, sich widersprĂŒchlich dazu zu âĂ€uĂernâ.
Die Zeit ist reif, Meinungen zu ĂŒberprĂŒfen, zu definieren und zu vertreten. Und vor allem wir Deutsche sollten sagen können mĂŒssen:
Wir lehnen jede Form von Massenvernichtungsmöglichkeiten ab.
Denn wir Deutsche wissen wie kein anderes Volk, dass jede fehlende demokratische Debatte nur fĂŒrchterliche Folgen haben wird. Deswegen sollten man sich nicht von Meinungsvernichtungswaffen wie sinnfreien AntisemitismusvorwĂŒrfen beeindrucken lassen.
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