Mittwoch, 03. März 2021

Transparente Politik: Wie die kleine Gemeinde Seelbach anderen zeigt, was die Zukunft ist

Guten Tag!

Rhein-Neckar/Seelbach, 16. November 2011. Während sich die Bundesregierung seit kurzem scheinbar transparent gibt, gibt es sie bereits seit langem: Die echte Transparenz. Ein kleiner Ort im Schwarzwald macht vor, was andere nur vorgeben zu tun: transparente Politik. Die Gemeinde Seelbach überträgt, als wäre das eine Selbstverständlichkeit, die Gemeinderatssitzungen übers Internet. Einfach so. Und alle sind zufrieden.

Kommunalpolitik zuhause über den Bildschirm des Computers im Internet verfolgen – was vor zehn Jahren schier undenkbar schien, ist heutzutage kein Problem mehr. Zumindest technisch gesehen – in vielen Köpfen hingegen ist das noch eine „unerhörte“ Sache.

Weniger Zuschauer im Saal können es nicht werden.

Dabei ist die Zuschauerresonanz bei den Gemeinderats- und Ausschusssitzungen meist mehr als überschaubar. Häufig kommen gar keine Gäste.

Dabei ist das politische Interesse der Bevölkerung durchaus gegeben – aber zwei, drei Stunden, manchmal noch länger zum Schweigen verurteilt im Raum zu sitzen, dafür haben nur wenige Zeit. Dabei interessieren sich die Menschen für die Ortspolitik. Reden auf der Straße, in der Kneipe, im Freundeskreis über das, was sie aus zweiter, dritter, vierter Hand haben.

Viele Themen sind nicht wirklich spannend – andere dafür aber von großer Bedeutung.

Wer noch arbeitet, gerade müde nach Hause gekommen ist oder sich um die Kinder kümmern muss, kann eventuell den Sitzungstermin nicht wahrnehmen, würde sich aber gerne später anschauen, was verhandelt worden ist.

Transparenz gibt Antworten und vermeidet Spekulationen.

Wer will es aber dem eigentlich interessierten Bürger verübeln, sich den Weg ins Rathaus zu sparen, wenn Entscheidungen und Beschlüsse in den Medien nachzulesen sind? Aber berichten diese Medien wirklich vorbehaltlos? Haben sie wirklich alle wichtigen Informationen richtig übermittelt? Oder wird gerne was vergessen, was nicht „in den Bericht passt“?

Wer wirklich informiert sein will, kennt das Original und vergleicht das mit der „Übermittlung“ durch andere.

Wird jemand falsch oder nicht zutreffend zitiert? Wie soll man das wissen, wenn man nicht dabei war? Was sagen Bürgermeister und Gemeinderäte in den öffentlichen Sitzungen tatsächlich? Wer sagt was? Worüber und wie wird abgestimmt?

Alles live oder im Archiv abrufbar: Die Seelbacher Gemeinderatssitzungen werden bereits seit 2004 im Internet übertragen.

Eine Live-Berichterstattung kann den Bürgern all diese Fragen beantworten, ohne dass diese das Haus verlassen müssen – beispielsweise auch ältere Menschen, von denen immer mehr das Internet als Anschluss zur Welt schätzen lernen.

Widerstand kommt vor allem von den Gemeinderäten.

Die Betreiber lokaler Blogs und Internet-Lokalzeitungen kämpfen gegen viel Widerstand – gegen verstaubte Hauptsatzungen und viele Vorurteile lokaler Politiker. Einen (vorerst) weiteren, bedingt erfolgreichen Versuch, Lokalpolitik live ins Netz zu übertragen, gab es im September in Passau, wo einiger Wirbel um das Thema entstand.

Vor allem die SPD machte die Modernisierung zur Provinzposse – die SPD-Mitglieder wollten sich auf keinen Fall aufnehmen und zeigen lassen. So hätte die Übertragung mit jeder SPD-Wortmeldung unterbrochen werden müssen. Nachdem sich die SPD in Passau der Lächerlichkeit preisgegeben hat, hat man sich besonnen und ist nun doch „auf Probe“ einverstanden, wie der Bayerische Rundfunk berichtet.

Engagierte Schüler und 5.000 Euro Budget fürs Bürgerfernsehen.

Es geht aber auch anders, wie eine kleine Gemeinde im Schwarzwald zeigt. Unter dem Titel Seelbach-TV überträgt die Gemeinde Seelbach bereits seit 2004 alle Gemeinderatssitzungen ins Netz und bietet sie anschließend lückenlos zum Download übers Internet an.

Das Gesamtbudget dafür beträgt vergleichsweise günstige 5.000 Euro pro Jahr. Acht bis neun Schülerinnen und Schüler der örtlichen Realschule führen in wechselnden Teams zwei Kameras und bedienen die sonstige Technik. Die Fachhochschule Kehl betreut das Projekt als Partner.

In den Sitzungen haben wir nie so viele Zuschauer, sagt Pascal Weber.

Hauptamtsleiter Pascal Weber ist begeistert: „Aus unserer Sicht ist das Projekt ein toller Erfolg.“ Das zeigen die „Einschaltquoten“ der 5.000-Einwohner Gemeinde: mehrere Dutzend bis weit über 100 „Zuschauer“ hat das Bürger-TV in Seelbach. Regelmäßig.

Rechnet man diese Zahlen hoch, wären das beispielsweise für Hirschberg an der Bergstraße 60-180 Besucher pro Sitzung, für Ladenburg 70-200, für Weinheim 250-720 Besucher. Tatsächlich nimmt in Hirschberg oft niemand, manchmal wenige und sehr selten vielleicht ein Dutzend Besucher teil. Der aktuelle Besucherrekord in Weinheim war 2011 im Oktober mit rund 130 Zuschauern zum Aufregerthema „Breitwiesen“ – sonst sind ein paar bis höchstens ein Dutzend Zuschauer die „Höchstgrenze“ an Interesse.

SeelbachTV.de - Transparenz als Normalzustand.

Die Skepsis war schnell vorbei.

Gab es keine Bedenken? „Doch“, sagt Hauptamtsleiter Weber:

Zu Beginn waren rund ein Drittel unserer 18 Gemeinderäte skeptisch. Was wenn ich stammle oder blöd wirke, so in der Art waren die Bedenken. Aber nach den ersten paar Sitzungen hat sich die Skepsis gelegt und seitdem achtet keiner mehr auf die Kameras. Die gehören dazu.

Wer denkt, Seelbach ist vielleicht ein Ort, den „Aktivisten“ übernommen haben, irrt. Seelbach ist eine absolut typische Gemeinde. Die CDU stellt sieben, eine Freie Wählerliste sechs und die SPD fünf Gemeinderäte – die meisten sind zwischen 50 und 60 Jahre alt.

Rechtlich abgesichert.

Rechtlich ist die Übertragung abgesichert: Alle Gemeinderäte und Verwaltungsangestellte haben ihre Zustimmung erklärt und Bürger werden in der Fragestunde um Erlaubnis gebeten: „Da hat noch nie einer widersprochen“, sagt Pascal Weber. Und laufen die Sitzungen anders als sonst? „Überhaupt nicht, die Gemeinderäte sprechen ihr breites Badisch und diskutieren die Themen wie immer.“

Seelbach ist insgesamt ein anschauliches Beispiel, wie transparente Lokalpolitik aussehen kann. Auf der Gemeindeseite werden die Beschlussvorlagen zu den Gemeinderatssitzung schon im Vorfeld veröffentlicht (inkl. aller Zahlen und Fakten) und auch die Sitzungsprotokolle stehen nach den Sitzungen schnell und dauerhaft online zur Verfügung.

Das sind traumhaft transparente Zustände – im Vergleich zu dem Großteil der Kommunen im Land ist Seelbach hier Spitzenreiter. Universitätsstädte wie Heidelberg sind dagegen altbacken – hier wurde Ende 2009 eine Live-Übertragung aus dem Gemeinderat per Beschluss verhindert.

Teilhabe erfodert auch mehr Transparenz der Entscheidungen.

Und wie traurig sind die Zustände in Nordbaden, unserem Berichtsgebiet: Pfenning in Heddesheim, der Sterzwinkel in Hirschberg und aktuell „Breitwiesen“ in Weinheim sind drei absolute Negativbeispiele. Intransparente Entscheidungen am Bürger vorbei präg(t)en diese „Vorhaben“. Vieles wurde im Hinterzimmer entschieden, nicht-öffentlich und es ist kein Wunder, dass die Menschen alle Formen von Klüngel mutmaßen.

Der Forderung nach Transparenz und Bürgerbeteiligung steht die Realität gegenüber. Hier vor Ort werden so viele Themen wie möglich sogar bevorzugt „nicht-öffentlich“ verhandelt.

Wer das ändern möchte, kann sich an den Gemeinderat seines Vertrauens wenden und nachfragen, wie lange das noch mit der Geheimniskrämerei weitergehen soll und ob man nicht endlich bereit ist, im 21. Jahrhundert anzukommen und sich das Interesses und die Kompetenz der Bürgerinnen und Bürger zunutze zu machen.

Mehr zum Thema gibt es auf dem Politblog [x Politics]. Dort geht es um Trends und Bewegungen, die fernab der parteipolitischen Tagesagenda die gesellschaftliche Zukunft gestalten und verändern.

Anmerkung der Redaktion:
Der vorliegende Artikel ist eine überarbeitete Fassung. Das Original wurde von der Tegernseer Stimme im bayerischen Gmund veröffentlicht, die ein ähnliches Lokalzeitungsnetzwerk betreibt wie unser Angebot. Der Geschäftsführer der Lokalen Stimme, Peter Posztos und Hardy Prothmann, verantwortlich für dieses Blog, betreiben zusammen die Firma istlokal Medienservice UG (haftungsbeschränkt), deren Geschäftsziel der Aufbau von unabhängigen Lokalredaktionen zur Förderung der Meinungsvielfalt und Demokratie ist.

Unter istlokal.de sind bislang rund 50 lokaljournalistische Angebote in einer Arbeitsgemeinschaft organisiert. Die Lokaljournalisten tauschen über weite Strecken hinweg Themen und Erfahrungen aus, die woanders vor Ort ebenfalls wichtig sind. Dabei nutzen sie das „weltweite Netz“ heißt, um vor Ort kompetent, interessant, aktuell und hintergründig zu informieren.

Bürgermeister Kessler hat einen Experten für „Bürgernähe“ – doch der wird nicht gefragt

Guten Tag!

Heddesheim, 16. März 2010. Bürgermeister Michael Kessler engagiert lieber ein Kommunikationsunternehmen, als sich selbst den kritischen Fragen der Öffentlichkeit zu stellen. Zudem behindert er immer wieder die Arbeit der kritischen Presse.
Beim bislang größten Bauvorhaben in der Geschichte Heddesheims tut Herr Kessler in Sachen „Bürgerbeteiligung“ nur das, was er absolut muss. Dabei hat er mit dem Hauptamtsleiter Julien Christof einen Experten für „E-Government“ und Bürgerbeteiligung im Rathaus sitzen.

Von Hardy Prothmann

Hauptamtsleiter Julien Christof ist Diplom-Verwaltungswirt (FH) und hat im Studienjahr 2007/2008 an der Fachhochschule Kehl eine Diplomarbeit vorgelegt, die viel beachtet und gelobt wurde: „Weblogs als Möglichkeit zur Bürgerbeteiligung in Kommunen“, heißt der Titel der Schrift.

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Bürgerbeteiligung war einer der Schwerpunkte der Diplomarbeit des Hauptamtleiters Julien Christof. Im Alltag ist davon noch nichts angekommen. Klicken Sie für eine größere Darstellung. Quelle: Diplomarbeit Julien Christof 07/08, FH Kehl

E-Government als positives Instrument.

Auf 125 Seiten führt Herr Christof in die Thematik „E-Government“ ein: „Unter Electronic Government verstehen wir die Abwicklung geschäftlicher Prozesse im Zusammenhang mit Regieren und Verwalten (Government) mit Hilfe von Informations- und Kommunikationstechniken über elektronische Medien.“

Der Arbeit ist anzumerken, dass Herr Christof überzeugt davon ist, dass Weblogs ein sehr positives Instrument sein können, um mehr Bürgernähe herzustellen und die Verwaltungen zu entlasten.

USA: blogs längst etabliert.

Herr Christof zitiert Franz-Reinhard Habbel, Sprecher des Deutschen Städte- und Gemeindebunds, als „einen der Vorreiter der kommunalen Modernisierung“: „In den USA sind Blogs im Konzert aller Medien längst als ernst zu nehmende Stimmen in der politischen Kommunikation etabliert.“

Herr Christof schreibt weiter: „(…) bedeutet dies, dass Kommunen die empirisch belegte Selbstverständlichkeit, mit der junge Menschen und auch immer mehr Erwachsene mit dem Internet umgehen, erkennen und auf dem Weg der vielfältigen Modernisierungsbemühungen der öffentlichen Verwaltung in ihre Überlegungen miteinbeziehen müssen. Die Vorteile wären dabei mehr Möglichkeiten zum Dialog zwischen Verwaltung und Bürgern und damit eine bessere Akzeptanz von Entscheidungen.“

Die Verbesserung der „Akzeptanz von Entscheidungen“, die Worte Transparenz, Bürgerbeteiligung, Legitimität und Konsenz kommen häufig vor in der Arbeit des Herrn Christof.

Vorteile des Internets.

Und Herr Christof beschreibt kenntnisreich die Vorteile des Internets: „Vorteile der elektronischen Kommunikation sind neben Form und Richtung ihre Speicherfunktion, ihre geringen Zugangskosten und ihre große Reichweite. Durch die Digitalisierung ist eine sehr große Flexibilität bei der Umwandlung und Weiterverwendung von Daten gegeben.“

Zum Ende seiner Arbeit schreibt Herr Christof: „Dieser Trend hin zur Verlagerung der Kommunikation auf die Basis des Internets wird sich fortsetzen, ein Teil der Kommunen hat ihn bereits erkannt. Man darf gespannt sein, wie viele Kommunen in den nächsten Jahren neue Schritte auf dem Weg der E-Partizipation wagen und im Web 2.0 ankommen werden.“

Möglichkeit zum Dialog? Nicht für Bürgermeister Kessler.

Ob Herr Christof zu diesem Zeitpunkt, als er den letzten Satz seiner Diplomarbeit schrieb, bereits wusste, dass er bei der Gemeinde Heddesheim anfangen würde, ist der Redaktion nicht bekannt.

Klar ist nur, dass das Wissen des Hauptamtsleiters Julien Christof in Sachen Internet brach liegt und Bürgermeister Michael Kessler nicht gewillt zu sein scheint, diesen Schatz heben zu wollen. Dabei wird kolportiert, dass Herr Christof neben seinen sehr guten Examensnoten auch wegen dieses Fachwissens als geeigneter neuer Hauptamtsleiter ausgewählt worden sei.

Vielleicht hat der Bürgermeister Michael Kessler aber irgendwann die Arbeit gelesen und ist zu der Erkenntnis gekommen, dass „die Möglichkeit zum Dialog“ eigentlich nicht sein Ding ist.